Ein (Un-)Glück kommt selten allein!

Autor: Prof. Dr. Darko Jekauc

Einleitung

 

In der ersten Runde eines internationalen Jugendturniers sieht es überhaupt nicht gut für Lukas aus. Er hat den ersten Satz 6:0 verloren und liegt im zweiten Satz deutlich zurück. So viel hatte er sich für dieses Turnier vorgenommen, doch jetzt drohen alle seine Hoffnungen auf einem Nebenplatz jämmerlich zu platzen. Was wird wohl sein Verbandstrainer über ihn denken? Wird ihm die Förderung des Verbands entzogen? Wird ihn sein Vater bestrafen? Er wirkt sichtlich genervt, schon mehrmals hat er den Schläger auf den Boden geworfen und laut geschrien. Eine Mischung aus Ratlosigkeit und Aggression spiegeln sich in seiner Gestik und Mimik. Seine Hände sind zittrig und sein Gang strahlt Hektik aus. Die herab hängende Schultern und der hilflose Blick weichen nach verlorenen Punkten häufig heftiger Wut, Aggressionen und verbalen Entgleisungen. Auf der anderen Seite des Netzes wirkt sein Gegner konzentriert und voller Energie. Seinen platzierten Bällen hat Lukas nichts entgegenzusetzen. Die bittere Niederlage scheint unausweichlich.

 

Doch beim Spielstand von 0:6, 1:5 und 0:30, ereignet sich eine Szene, die den gesamten Verlauf des Matches auf dem Kopf stellen wird. Nach einem langen Ballwechsel erläuft Lukas einen Stoppball und spielt Gegenstopp. Der Gegner ruft zufrieden: „Der Ball ist zweimal aufgesprungen. Punkt für mich!“. Lukas ist anderer Meinung und protestiert. Zwei Jugendliche, die fest entschlossen sind, ihr Recht zu behaupten, tauschen resolut ihre Argumente aus. Nach einer Diskussion ohne Einigung ruft jemand aus dem Publikum den Schiedsrichter, der nach einer mehrminütigen Verzögerung auch kommt. Er hört sich die Standpunkte der beiden Kontrahenten an und erklärt mit ruhiger Miene, dass jeder auf der eigenen Seite des Netzes zu entscheiden habe. Der Punkt geht also an Lukas. Dessen Gegner kann die Entscheidung nicht fassen. Er habe deutlich gesehen, dass der Ball zweimal aufgesprungen sei. Der Schiedsrichter versucht den aufgebrachten Jugendlichen zu beruhigen und versichert, für den Rest des Spiels auf dem Platz zu bleiben, um im Zweifelsfall zu entscheiden.

Danach ist das Match nicht mehr das Selbe. Lukas wirkt wie ausgewechselt, sein ganzer Frust scheint sich während der Unterbrechung gelegt zu haben. Mit dem Mut der Verzweiflung mobilisiert er nun alle seine Kräfte und nimmt den Kampf wieder auf. Nach dem er sich das Spiel zum 2:5 erkämpft hat, spürt er, dass hier doch noch etwas gehen könnte.

 

 

 

 

 

Seine Schläge sind plötzlich sicher und kraftvoll. Nach jedem Punkt feuert sich Lukas lautstark an, er sendet Signale der Kampfbereitschaft aus. Auf einmal ist sein Gegner unter Druck. Ihm unterlaufen leichte Fehler und er spürt, wie ihm eine fast schon gewonnene Partie aus der Hand gleitet. Er versucht alles, um die Niederlage abzuwenden, aber es will ihm nichts mehr gelingen. Nach dem Break zum 5:5 ist der letzte Wiederstand gebrochen. Kurze Zeit später hat Lukas das Match mit 0:6, 7:5 und 6:0 gewonnen.

 

Bestimmt haben Sie selbst schon ein vergleichbares Match erlebt. Denn solche Spielverläufe kommen nicht nur im Jugendbereich, sondern auch bei hochkarätigen Profiturnieren vor. Denken Sie nur an das legendäre Match zwischen Jimmy Connors und Mikael Pernfors in der vierten Runde von Wimbledon 1987. Nach einem Rückstand von 1:6, 1:6 und 1:4 (mit zwei Breaks) drehte Connors die Partie und gewann. Oder erinnern Sie sich an das dramatische Davis Cup Match zwischen Michael Stich und Andrei Chesnokov? Die Geschichte des Tennis ist voll von Duellen mit unerwarteten Wendungen und unwahrscheinlichen Ergebnissen. Diese Beispiele verdeutlichen uns, wie bedeutend die Rolle der Psyche im Tennisspiel ist. Nähern wir uns diesem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive.

 


Das Hot-Hand und Cold-Hand-Phänomen

 

In der Sportpsychologie reden wir vom Hot-Hand- oder Cold-Hand-Phänomen. Solange ein Spieler eine Glückssträhne erlebt, eine Phase in der ihm alles gelingt, scheint er ein „heißes Händchen“ zu haben. Verliert er aber eine Serie von Punkten, leidet er am „kalten Händchen“. Während eines Tennismatchsdurchlaufen wir mehrere Phasen vom heißen und kalten Händchen. Die Punkte zweier gleich starker Gegner verteilen sich keineswegs gleichmäßig nach dem Zufallsprinzip, also ungefähr abwechselnd. Es ist eher so, dass die Punkte gehäuft, in sogenannten Chunks, gewonnen oder verloren werden. Es entstehen Serien, in denen ein Spieler mehrere Punkte oder Spiele in Folge gewinnt oder verliert.

 

Die Statistiker Jan Magnus und Franc Klaassen von der Universität Tilburg in den Niederlanden haben genau das in einer Reihe von Untersuchungen im Profitennis festgestellt: die Wahrscheinlichkeit, einen Punkt zu gewinnen, wird vor allem vom Ausgang des vorherigen Punktes bestimmt. Wird ein Punkt gewonnen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der nachfolgende Ballwechsel ebenfalls erfolgreich beendet wird. Umgekehrt kündigt ein verlorener Punkt oft einen erneuten Fehler an. Bemerkenswert ist, dass die Tendenz zur Hot-Hand oder Cold-Hand mit steigendem Ranking abnimmt. Offenbar zeichnen sich die weltbesten Tennisspieler durch eine besondere Konstanz und psychische Stabilität aus, die sie vor Schwächephasen schützt. Welche psychologischen Mechanismen machen uns nun also anfällig für das Auf und Ab – und wie können wir uns davor schützen?

 

Der emotionale Kreislauf

 

Aus eigenen Untersuchungen wissen wir, dass die Entstehung von solchen Punkteserien und Wendungen im Spiel von einem Kreislauf aus Emotionen, Gedanken und physiologischen Zuständen begünstigt wird (siehe Abbildung 1). Lässt man im Training zwei gleichwertige Spieler in einer entspannten Atmosphäre ein Spiel bis 11 Punkte spielen, verteilen sich die Punkte zunächst scheinbar zufällig, wobei beide Spieler relativ gelassen mit Punktverlusten umgehen. Schafft man aber eine Drucksituation im Training, beispielsweise indem man den Verlierer zu 30 Liegestützen verpflichtet, so treten besagte Punkte- oder Fehlersequenzen auf, die sich statistisch nachweisen lassen. Zwischen den Ballwechseln zeigen sich dann plötzlich Nebenerscheinungen, wie Frust und Ärger über Punktverluste, Resignation, negative Selbstgespräche oder Geschrei.

Der Spieler gerät in den Kreislauf negativer Emotionen, der ihn immer weiter nach unten zieht. In diesem Kreislauf folgen einem Punktverlust häufig negative körperliche Reaktionen, etwa herabhängende Schultern oder hilflose Blicke. Diese begünstigen die Entstehung negativer Emotionen wie Ärger, Angst  oder Niedergeschlagenheit. Die Emotionen wiederum lösen negative Gedanken aus, beispielsweise „Du bist schlecht!“ oder „Du kannst es nicht!“. Der Mix aus negativen körperlichen Reaktionen, Emotionen und Gedanken erschwert die Konzentration auf den nächsten Punkt. Der Punktverlust ist dann kaum mehr abzuwenden – und er löst die emotionale Schleife von vorne aus. Diesmal fällt die körperliche Reaktion noch extremer aus und der Frust sitzt noch tiefer. Der Spieler verfängt sich in diesem Teufelskreis, seine Leistung wird immer schlechter.

Gewinnt er aber zwei bis drei Punkte in Folge, kann ihm das helfen, aus der Abwärtsspirale zu entkommen. Möglicherweise gerät sein Gegner nun in den unseligen Kreislauf der negativen Emotionen. So kann es, wie im Beispiel von Lukas, zu einer Wende im Spiel kommen. Der Ausgang eines Ballwechsels ist also nicht nur abhängig von der spielerischen Stärke der beiden Spieler, sondern auch von ihrem emotionalen Zustand.

 

Der emotionale Kreislauf basiert auf den kybernetischen Prinzipien der positiven Rückkopplung: Ein Ausgangswert (z.B. Punktverlust) löst eine Kettenreaktion aus, die wiederum in einem weiteren Punktverlust mündet. Die betroffene Person gerät aus dem emotionalen Gleichgewicht und in einen Abwärtssog. Eine Verschlechterung der Leistung ist die Folge (siehe Abbildung 2). Der Spieler ist nicht in der Lage sein Potential auf dem Platz voll auszuschöpfen. Beim emotionalen Kreislauf handelt sich um ein weit verbreitetes Phänomen, das man tagtäglich bei Turnieren und Mannschaftswettkämpfen beobachten kann.

 

Prinzipiell ist auch eine Aufwärtsspirale möglich, bei der ein Spieler über sich selbst hinauswächst und außerordentliche Leistungen erbringt. Aufwärtsspiralen entstehen jedoch viel seltener als Abwärtsspiralen. Der Grund dafür ist die Art, wie Menschen ihre Emotionen verarbeiten: negative Gefühle fallen stärker ins Gewicht als positive Gefühle und beanspruchen mehr Ressourcen.

 

Wenn ein Spieler über mehrere Partien hinweg im Kreislauf der negativen Emotionen verfangen bleibt, gerät er in eine Krise mit Folgen. Negative Emotionen und Gedanken automatisieren sich, sie setzen sich im Spieler fest. Es entstehen ungünstige Denk- und Verhaltensmuster, die zukünftig in ähnlichen Spielsituationen die Kontrolle übernehmen. Gibt es Möglichkeiten, den Kreislauf zu unterbrechen?

Praxistipps


Der emotionale Kreislauf erweist sich in der Praxis als sehr robust. Durch Einsicht oder mit rationalen Argumenten ist er kaum zu besiegen. Einem aufgebrachten Spieler den Ratschlag zu erteilen, sich zu beruhigen, ruft oft nur eine Trotzreaktion hervor, die das Gegenteil bewirkt. Hilfreicher sind langfristige Strategien, die auf eine Veränderung der automatisierten Reaktionen abzielen. Bevor ein Spieler diese Strategien im Wettkampf anwenden kann, muss er sie aber im Training einüben. Folgende Strategien haben sich im Wesentlichen als wirksam erwiesen:

1. Selbstbewusste Körpersprache

Aufbau einer positiven Körpersprache ist erster Schritt zur emotionalen Ausgeglichenheit. Benehmen Sie sich so, wie Sie sich fühlen möchten. Versuchen Sie nach außen Gelassenheit auszustrahlen, dann werden Sie sich nach einer Weile auch gelassener fühlen. Setzen Sie die positive Körpersprache auch dann um, wenn es Ihnen nicht danach ist.

2. Entspannungstechniken erlernen

Überprüfen Sie Ihren Erregungszustand. Wie angespannt sind Sie? Je angespannter und erregter Sie sind, desto stärker werden die Auswirkungen des emotionalen Kreislaufs sein. Erlernen Sie deshalb Entspannungstechniken und regulieren Sie Ihren eigenen Erregungszustand.

3. Emotionen bewusst wahrnehmen und akzeptieren

Wenn Sie wissen, was in Ihnen vorgeht, können Sie viel gezielter darauf reagieren. Machen Sie sich deshalb bewusst, welche Emotionen in Ihnen entstehen und akzeptieren Sie sie. Wenn Sie versuchen, die Emotionen zu negieren oder zu unterdrücken, wird sich die Frustwelle noch höher auftürmen. Durch die Akzeptanz des eigenen emotionalen Zustands, nehmen Sie den negativen Emotionen den Wind aus den Segeln.

4. Positiv denken

Denken Sie positiv! Führen Sie sich positive Aspekte Ihres Spiels vor Augen. Denken Sie an das, was Sie erreichen wollen bzw. wie ihr Spiel optimaler Weise aussehen sollte. Damit können Sie den Fluss negativer Gedanken brechen.

5. Fokussiert bleiben

Richten Sie den Fokus auf den nächsten Punkt. Denken Sie an das, was unmittelbar bevor steht, beispielsweise Aufschlag oder Ruturn. Im Grunde ist der nächste Punkt der wichtigste. Alles andere ist egal.

6. Nicht bewerten

Bewerten sie nicht jeden Punkt. Fehler sind ein zentraler Bestandteil des Tennisspiels. Denn auch die besten Spieler der Welt machen Fehler. Warum sollten Sie dann fehlerlos sein? Nehmen Sie deshalb die eigenen Fehler nicht zu ernst.

 


Fazit

 

Im Tennis werden Punkte häufig in Serien gewonnen und verloren, was bizarre Wendungen im Spiel zur Folge haben kann. Die Ursache dafür ist der emotionale Kreislauf, der einen Spieler nach mehreren verlorenen Punkten in eine Abwärtsspirale hineinziehen kann. Eine Kettenreaktion aus körperlichem Verhalten, negativen Gedanken und Emotionen wird ausgelöst, die die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt und sich negativ auf den nachfolgenden Punkt auswirkt. Doch mit Hilfe trainierbarer Strategien können Sportler den Kreislauf durchbrechen und eine konstante Leistung abrufen.